Nadine Karl

Ich Lasse Mich Nicht Zwingen Was Ich Machen Muss


Videoperformance
2020
Performerin: Nadine Karl
Stimme im Hintergrund: Josef Karl
Kamera: MarfMabo

Die Videoperformance „Ich lasse mich nicht zwingen, was ich machen muss“ beschäftigt sich mit psychischer und physischer Isolation. Die Videoperformance ist von der Muskelerkrankung ALS meines Vaters inspiriert. Er verlor nach und nach die Kontrolle über seinen Körper und seine Stimme. Die Performance ist für mich ein Akt der Tochterliebe, in dem ich mich in seine Lage versetze, ohne ihn dabei zu imitieren, sondern in dem ich eine eigene Abstraktion seines Zustandes darstelle. Bei der Dokumentation wollte ich wenige Schnittbilder verwenden. Der Ton des Videos beinhaltet ein Ticken mit Gesprächsaufnahmen meines Vaters, die mehrspurig aufeinandergelegt wurden. Das Ticken ist die Verknüpfung mit der realen Zeit als einzigem Anknüpfungspunkt zu dieser Realität. Die nächste Ebene ist der Monolog meines Vaters, in dem er erklärt, wieso er zwar krank ist, es aber nicht sein möchte und auch immer noch geistig präsent ist. Deswegen lehnte er zu diesem Zeitpunkt jegliche Hilfestellungen ab. Nadine Karl

Was, wenn die Sohlen auf regennassem Boden keinen Halt mehr haben? Wenn jeder Schritt suchend nicht findet, was er finden soll? Und der Körper, wie Gedanken kreisend, auf der Stelle harrt? Alles, was so leicht erschien, ist plötzlich schwer. Im Raum schwimmend treibt der Körper wie auf dem offenen Ozean, bis die Hände endlich die glänzende Tischplatte finden, die den Weg zum Stuhl hin weist. Jetzt gilt‘s nur noch das Brot, das Wasser zu dem Mund zu führen, doch das Besteck ist festgefroren, festgefroren wie die sich überlagernde Stimme im Hintergrund. Wie aus grauem Brodem lösen sich Gedankenblasen, zerplatzen bevor sie sich zu Worten formen können, liegen auf der Zunge brach. Das geschieht, wenn der Körper nicht mehr dem folgt, was der Kopf ihm sagt. Zwei Hände legen sich um Glas, um Becher und jeder sonst so alltägliche Griff wird zum unvorstellbar kräftezehrenden Akt. Schnee fällt auf den zugedeckten Garten, in dem Äste wie ausgestreckte Finger dunkel in den Himmel ragen, begräbt unter sich, was vorher noch lebendig war. Legt sich als nasser Film auf graue Möbel, auf graue Menschen, die bunte Farben trugen, als im Sommer noch Sonnenwärme auf nackter Haut lag. Das Anthrazit, es saugt den Körper ein, bis er nicht mehr nach oben findet, strampelt in dem grauen Sumpf – mit aller Kraft – und doch eins wird, bis er ganz und gar verschwindet. Die Zeit, sie steht nie still, immer weiter tickt die Uhr, wenn der Mensch wie in Zeitlupe fällt und die Tochter es dem kranken Vater gleichtut. Was, wenn der Wille stärker als der Körper wäre und der Wille „Ja“ zum Leben sagt? Wenn Liebe durch die dunkle Kälte dränge und stärker wäre als alles andere? Doch der Schnee fällt weiter, bis die Stimme im Hintergrund versagt.

Text von Julia Stellmann

Die Videoperformance von Nadine Karl weist in ihrer konsequenten Umsetzung über den Rahmen persönlich erfahrenen Leids hinaus. Isolation und Hilflosigkeit, gleich ob physischer oder mentaler Natur, sind zentrale Themen, die in ihrer Härte und Konsequenz oft nur als Randnotiz wahrgenommen werden. Über ihre monochrome Umsetzung verbildlicht Nadine Karl den Daseinszustand betroffener Menschen, schafft mit ihrer Videoarbeit einen nachhaltigen, emotionalen Beitrag. Die Kopplung von Bildmaterial, der Videoperformance, und der Tonspur, authentischem Tonmaterial, fordert die Betrachterinnen und Betrachter mit großer Vehemenz. Begründung der Jury des Kunstpreis Landtag NRW zur Nominierung - Katalog

Photos: Ronja Greiner




Videoperformance
2020
Performer: Nadine Karl
Background Voice: Josef Karl
Camera: MarfMabo

The video performance „Ich lasse mich nicht zwingen, was ich machen muss“ (I won't be forced to do what I have to do) deals with psychological and physical isolation. The piece is inspired by my father's muscular disease ALS. He progressively lost the ability to control his body and his voice. For me, the performance is an act of daughterly love in which I put myself in his position without imitating him, but presenting my own abstraction of the situation. For the documentary, I wanted to have few cuts. The sound of the video is the ticking with conversation recordings of my father, which were layered on top of each other in several tracks. The ticking is the link to real time, as the only point of connection to this reality. The next line is my father's monologue, in which he explains why he is ill but doesn't want to be, and why he is still mentally present. That's why he refused any help at that time. Nadine Karl

What if the soles no longer have a grip on rain-soaked ground? When every step, searching, does not find what it is supposed to find? And the body waits like thoughts circling on the spot? Everything that seemed so easy is suddenly heavy. Floating in space, the body drifts as if on the open ocean, until the hands finally find the shiny tabletop that points the way to the chair. Now it's only a matter of bringing the bread, the water to the mouth, but the cutlery is frozen, frozen like the overlapping voice in the background. As if from grey broth, thought bubbles are released, burst before they can form words, lie fallow on the tongue. This is what happens when the body no longer follows what the head tells it. Two hands wrap around glass, around cups, and every otherwise everyday grasp becomes an unimaginably energy-sapping act. Snow falls on the covered garden, where branches reach darkly into the sky like outstretched fingers, buries under itself what was still alive before. It lies as a wet film on grey furniture, on grey people who wore bright colours when in summer the warmth of the sun still lay on their naked skin. The anthracite, it sucks the body in until it can no longer find its way up, tramples in the grey swamp - with all its might - and yet becomes one, until it disappears altogether. Time, it never stands still, the clock keeps ticking, when man falls as if in slow motion and the daughter does the same as her sick father. What if the will were stronger than the body and the will said "yes" to life? What if love pushed through the dark cold and was stronger than everything else? But the snow keeps falling until the voice in the background fails. 

Text by Julia Stellmann
Translated into English by Nadine Karl

Photos: Ronja Greiner